In der Schule, ich denke es war so in der 8. oder 9. Klasse, haben wir Das Leben des Galilei von Brecht gelesen. Kurz erklärt: 16. Jahrhundert – es geht darum, dass der Physiker Galilei sich mit der Kirche anlegt, da er davon überzeugt ist, dass die Sonne sich nicht, wie angenommen, um die Erde, sondern die Erde sich um die Sonne dreht. Er rüttelt am damaligen Weltbild und anstatt sich seiner These auch nur einmal anzunehmen, wird er dazu aufgefordert, seine Aussage zu widerrufen. Ich erinnere mich, dass meine Mitschüler und ich empört darüber waren, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse einfach abgetan und ignoriert wurden. Wir waren damals der festen Überzeugung, dass so etwas in unserer aufgeklärten Zeit niemals wieder vorkommen würde…
Bis ich gemerkt habe, wie sehr ich an meinem Weltbild hänge.
Ich umklammere es förmlich und möchte kein Stück davon abgeben. Bloß nicht loslassen! Neue Erkenntnisse? Andere Meinungen? Moderne Studien? Bitte nicht. Ich habe mein kleines Weltbild doch so schön geordnet und eingerichtet, es hübsch dekoriert und fein säuberlich in meinem Kopf platziert. Und da soll es Bitteschön bis an mein Lebensende bleiben. Warum? Weil wir das schon immer so gemacht haben.
Wo kommen wir denn hin, wenn ich meine eigene Meinung jetzt auch noch andauernd hinterfragen muss? Wenn ich alles, an das ich geglaubt habe ad acta legen und mich immer wieder neu orientieren soll. Was ist mit Gewohnheit, Bequemlichkeit und Trägheit? Soll ich mir am Ende wirklich meine eigenen Gedanken über jedes einzelne Themen machen?
Bleiben wir doch noch einmal in der Schulzeit. Da kommt mir vor allem eins in den Sinn: Auswendiglernen. Nein, das ist keine Kunst. Das ist pure Fleißarbeit. Weshalb man sich überlegen kann, wie viel Schulnoten wirklich wert sind – aber das ist ein anderes Thema. Auswendiglernen steht im absoluten Kontrast zum Denken. Selber denken – wurde das je irgendwo verlangt? Wenn schon nicht in der Schule, dann doch wohl in der Uni. Aber zwanzig Bücher zu einem Thema heraussuchen und sie in eine Hausarbeit in Schachtelsätzen zusammenzufassen kann wohl kaum als selber denken bezeichnet werden – intellektuelle Fleißarbeit. Wie ist es auf der Arbeit? Wer gibt da den Ton an? Zählt meine Meinung? Oder die des Unternehmens, in dem ich arbeite?
Wir leben in einer Welt, in der für Meinungsfreiheit gekämpft wird, aber ist die Meinung, die du vertrittst überhaupt deine? Oder hast du sie irgendwie gehört oder gelesen? Ist es wirklich deine Ansicht oder die deiner Eltern, des Chefs oder deines Partners?
Wann hast du das letzte Mal eine deiner Ansichten auf Herz und Nieren geprüft?
Mir ist vor zwei Tagen klargeworden, dass meine Lesetechnik aus der ersten Klasse ist und es mittlerweile Techniken wie Speedreading gibt, die es mir ermöglichen ein Buch mindestens dreimal so schnell zu lesen. Aber ich habe meine Lesetechnik bis heute einfach nie hinterfragt. Liest du jedes Wort einzeln? Verbalisierst du das Gelesene in deinem Kopf? Glückwunsch, auch deine Lesetechnik ist noch aus der Grundschule. Der deutsche Durchschnittsleser liest zwischen 150 und 300 Wörter pro Minute. Möglich wären 1000 Wörter pro Minute. Das ist jetzt nur ein triviales Beispiel. Aber wie sieht es mit Themen aus der Medizin, Geschichte oder Physik aus?
Wann hattest du dein letztes Aha-Erlebnis? Wann hast du das letzte Mal mit Erstaunen festgestellt, dass das was dir beigebracht wurde nur die halbe Wahrheit war oder gar eine Lüge?
Wie sehr hat es dich schockiert, als du erfahren hast, dass Kolumbus Amerika gar nicht als erster entdeckt hat? Wie hast du reagiert, als dir klar wurde, dass Zucker süchtig macht und es überall untergemischt wird? Was waren deine Gedanken, als du verstanden hast, dass es unzählige sogenannte demokratische Staaten gibt, die sich für den Frieden einsetzen und gleichzeitig führend im Waffenexport sind?
Warst du jemals in der Position von Galileo Galilei?
Hast du jemals mit deiner Meinung den gesamten Zorn deines Umfelds auf dich gezogen? Dann kennst du wahrscheinlich auch die hochgelobte Meinungsfreiheit, die nur so lange gilt, so lange du die richtige Meinung hast. Andersdenkende, Visionäre und Querdenker zu diffamieren ist immer noch so verbreitet wie noch im 16. Jahrhundert.
Lies dazu hier auch den Text Hexenverbrennung ist so 2018Aber wo liegt eigentlich das Problem?
Schließlich ist ein Andersdenkender eine Farbe in unserem Schwarz-Weiß-Denken. Ein Andersdenkender ist nicht mehr und nicht weniger als jemand, der anders denkt. Was denkst du? Denkst du? Einige große Denker denken, dass die meisten Menschen nur gedacht werden. Klingt hart? Denk doch ma drüber nach!
Warum lassen wir uns so gerne alles vorkauen und schlucken nur noch runter? Erinnerst du dich? Mich erinnert das an meine Kindheit, als ich noch keine Zähne hatte und mir das Essen vorgekaut werden musste. Dass mir heute jemand mein Essen vorkaut, wäre undenkbar für mich. Warum dann nicht auch auf der geistigen Ebene? Warum sollte ich mir vorkauen lassen, was ich zu denken habe? Was richtig und was falsch ist? An welchem Weltbild ich mich orientieren soll und welches bereits veraltet ist?
Es war nie leichter als heute seine eigenen Recherchen zu betreiben. Im Internet haben wir kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Datenbanken aller Welt. Es gibt Bücher, Fachartikel, Studien, Videos – jedenfalls genug Möglichkeiten, um sich selbst ein Bild zu machen. Ich sage es mal wie Kant: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Diese Aussage ist über 300 Jahre alt und immer noch instagramable #ikanthelpit
Es ist Zeit mutig zu werden. Drück auf Reset. Formatier deine Platte und zieh dein eigenes Denksystem auf. Wirf dein Weltbild über Bord. Denn das was du gestern gedacht hast, muss morgen keine Gültigkeit mehr haben. Du auf einem Foto von gestern, bist ja auch nicht mehr der Mensch auf dem Foto von morgen. Denk mal drüber nach!