Eigentlich war ich schon auf dem Weg zur Straßenbahn, als ich merke, dass ich meinen Kaffee vergessen habe. Also nochmal zurück, Kaffeebecher schnappen und wieder los. Vollbepackt laufe ich die Treppen zur Station runter, als ich im Augenwinkel mitten im Gewusel eine Frau mit Kinderwagen sehe, die nur hilflos in alle Richtungen guckt. Ich bleibe stehen und erkläre ihr, dass die Aufzüge hier schon eine Ewigkeit nicht mehr funktionieren und helfe ihr schließlich den Kinderwagen samt minikleinem Baby heile die Treppen runterzutragen. Dreißig Sekunden hat das gedauert. Sie bedankt sich. Ich verabschiede mich und fahre zur Arbeit.
Ich helfe immer, wenn ich sowas sehe. Das ist der Satz, den ich von jedem höre, dem man so eine Szene beschreibt. Man könnte also meinen, dass sie überall sind – diese Immer-Helfer. Trotzdem sieht man sie sehr selten. Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe scheinen vom Aussterben bedroht zu sein. Klar, ab und zu beobachte ich, wie jemand in der Bahn für eine ältere Dame seinen hartumkämpften Platz schließlich doch aufgibt. Aber das tut er oft nur, nachdem er von drumherum sitzenden Rentnern mit viel Räuspern und Todesblicken indirekt dazu gezwungen wurde. Älteren Menschen seinen Sitzplatz zu überlassen und sich den halben Tag darüber aufzuregen, dass man zehn Minuten stehen musste – das ist keine Nächstenliebe.
Es ist viel mehr eine Einstellungssache. Womöglich Erziehung. Wer nie gelernt hat zu helfen oder zu teilen, dem wird es wahrscheinlich das ganze Leben lang sehr schwer fallen. Aber in erster Linie muss es diesen Wunsch in einem geben, anderen helfen zu wollen. Diesen natürlichen Drang. Dieses Bedürfnis. Und nach einer guten Tat dann ein befriedigendes Gefühl.
Dass ich diesen Text gerade jetzt schreibe, hat vor allem damit zu tun, dass ich auf Reisen immer mehr mit fremden Menschen in Kontakt komme, als ich es zuhause auf der Straße tue. Warum das so ist, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht bin ich auf Reisen offener für Kontakte. Zumindest beobachte ich in fremder Umgebung viel intensiver.
Und mal wieder merke ich diese krassen Unterschiede. Die Menschen sind so freundlich, dass man sich manchmal dabei erwischt, wie man sich fragt, ob die das wirklich ernst meinen. Aber dann wird mir klar, dass ich es von hier einfach nicht gewohnt bin. Dass ich froh sein kann, wenn ich mal vernünftig aus dem Zug aussteigen kann, ohne dass ich von neueinsteigenden Fahrgästen überrannt werde. Dass mich hier nie jemand einfach so durch eine fremde Stadt führen würde – ohne Gegenleistung. Dass hier bei einem Unfall nur noch geguckt und geknipst wird und eben nicht zehn Menschen auf die Straße rennen und einfach nur helfen.
Wann ist Helfen ohne Gegenleistung uncool geworden? Was kriege ich dafür? Was habe ich davon? Warum sollte ich das einfach so machen? Für lau ist nicht mehr. Dafür sind wir uns mittlerweile zu schade. Ich soll jemandem einfach so helfen? Mir hilft doch auch keiner.
Wir hängen in einem Teufelskreis, in dem jeder nur noch mit Scheuklappen durch die Gegend rennt. Unachtsam. Egoistisch. Ohne jegliche Verantwortung. Alles, was gratis ist, wird abgestaubt. Aber wenn es darum geht einfach ohne Hintergedanken etwas zu geben, dann werden die Gardinen aber ganz schnell wieder zugezogen.
Ich möchte diesen Teufelskreis durchbrechen. Ich möchte einfach geben. Ohne Erwartungen. Ohne Gegenleistung. Ohne Hintergedanken. Und ich möchte, dass es wieder selbstverständlich ist. Dass man kein großes Trara darum macht. Dass wir keine Videos mehr auf Facebook außergewöhnlich finden, in denen jemandem aus Nächstenliebe geholfen wird. Dass ich keine Frauen mehr hilflos mit Kinderwagen vor Treppen sehe. Dass zehn Menschen gleichzeitig im Bus für eine alte Dame aufstehen.
Ich möchte, dass uns Helfen Freude bereitet. Und, dass wir wiederum glücklich sind, wenn uns mal geholfen wird. Das klingt alles so banal. Aber all das vermisse ich so sehr.
Ich sehe so viele verbitterte Menschen. Menschen, die über alles nur noch nörgeln können. Die offensichtlich nichts mehr glücklich machen kann. Und dann sehe ich Menschen im Ausland, die viel viel weniger haben als wir. Und die trotzdem viel glücklicher erscheinen. Die mich anlächeln. Und dann lächle ich zurück und spüre einfach nur Liebe und Barmherzigkeit.
Seit dieser Reise frage ich mich mal wieder, was uns so sehr voneinander unterscheidet. Warum diese Menschen diese Wärme in sich tragen. Warum sie einander einfach helfen. Warum sie keine Gegenleistung erwarten. Und irgendwann wurde es mir klar. Und die Antwort ist so offensichtlich und trotzdem für viele schier unmöglich.
Das Geheimnis? Bedingungslose Güte.
“Es nützt nichts, nur ein guter Mensch zu sein, wenn man nichts tut!” – Buddha