Als ich mich in den letzten Tagen durch meinen Instagramfeed geklickt habe, hätten die Bilder unterschiedlicher kaum sein können. 831 Kanäle habe ich abonniert. Das fängt an bei Foodbloggern, Yogis, Digitalen Nomaden und DIY-Ökos und hört auf bei Fashionbloggerinnen und Supermodels. Und wenn ich oft das Gefühl habe, dass alle Kanäle recht gleich aussehen, habe ich letzte Woche verstanden, dass es da doch zwei Welten gibt. Die Nachhaltigen und die Verschwenderischen. Letzte Woche war nämlich Fashion Revolution Week.
Ohne das zu wissen bin ich Anfang letzter Woche zufällig auf eine Dokumentation bei Netflix gestoßen, die sich genau damit beschäftigt – The True Cost. Auch wenn ich vorher das Gefühl hatte, schon viel über die dreckigen Machenschaften der Modeindustrie zu wissen, habe ich nach der Doku erst begriffen, dass ich nichts weiß. Und ich habe begriffen, dass ich meine Augen so unfassbar fest verschließe. Weil ich genau wusste, dass ich aus der Sache nicht mehr rauskomme, wenn ich mich einmal damit befasste (so wie es eben schon mit den Themen Kosmetik und Zucker war und ist). Aber, dass diese Dokumentation eben in diesem Augenblick in mein Leben gekommen ist, hat mir mal wieder zu verstehen gegeben, dass die Zeit jetzt gekommen ist.
Hier also ein deutlicher Hinweis für dich: Wenn du jetzt weiterliest, dann gibt es kein egal mehr. Dann weißt du Bescheid. Dann musst auch du Verantwortung übernehmen.
2016 haben sich in Indien ungefähr 250.000 Baumwollbauern das Leben genommen. Das Hauptproblem: Sie können das Baumwollsaatgut nicht mehr bezahlen. Und das dazugehörige Pflanzenschutzmittel auch nicht. Der weltweit größte Saatgut-Hersteller verkauft seit zehn Jahren genmanipuliertes Saatgut an die indischen Bauern und redete ihnen damals ein, dass man durch das genmanipulierte Saatgut noch viel mehr Baumwolle produzieren könne. Achja, den passenden Unkrautvernichter gab es vom Partnerkonzern gleich mit dazu – wie praktisch. Einmal in dieser Abhängigkeit gefangen, gibt es für die indischen Baumwollbauern kein zurück mehr. Für das vermeintliche Wundermittel haben sich viele Bauern verschuldet. Was sie nicht wussten: genmanipuliertes Saatgut braucht mehr Wasser, als gewöhnliche Baumwolle. Und das ausgerechnet in einem Land, das ohnehin mit Dürren zu kämpfen hat.
Viele Pflanzen sind zudem gar nicht erst aufgeblüht. Das Ergebnis: Weniger Erträge, brache Felder und Schulden für das teure Saatgut. Viele Bauern können dadurch ihre Familien nicht mehr ernähren und sehen die einzige Lösung im Freitod.
Der Großteil der verpesteten Baumwolle landet auf den Tischen der Näherinnen in Bangladesh, Indien, Vietnam, Kambodscha oder Äthiopien.
+++ 24.April 2013, Dhaka, Bangladesh +++
Im Rana Plaza Gebäude sterben 1133 Näherinnen, als das Haus einstürzt. Die Arbeiterinnen hatten schon lange vorher darauf hingewiesen, dass sich in den Wänden Risse befinden. An dem Morgen wurden sie vor die Wahl gestellt: entweder in das von der Polizei bereits abgesperrte Gebäude reingehen und weitermachen oder den Lohn nicht kriegen. Der Mindestlohn liegt in Bangladesh übrigens bei ca. 28 Euro monatlich. An diesem Tag haben 1133 Frauen ihr Leben gegen eine H&M-Jeans eingetauscht – aus Angst ihren Job zu verlieren.
30 Milliarden Dollar Gewinn machen die 20 größten Bekleidungsfirmen jährlich. Praktisch dabei: Sie zahlen der Arbeiterschaft total wenig Lohn. Und in den besagten Ländern müssen die Konzerne nicht mal Körperschaftssteuer zahlen. Und so bekommst du tolle 2-Euro-Shirts und die Industrie macht trotzdem noch Gewinn…win…win.
Als ich heute Morgen meinen Kleiderschrank geöffnet habe, haben meine Klamotten mich regelrecht angewidert. Das Selbstverständnis, mit dem ich sonst scherzhaft sage, ich hätte nichts zum Anziehen und mich durch meine H&M, Asos und Review-Shirts wühle, ist von jetzt auf gleich verstummt. Beschämt suche ich mir ein Outfit aus und schiele dabei auf die Etiketten. Da kann die Textilindustrie noch so viele Consciousness-Kollektionen herausbringen – für die ausgebeutete Arbeiterschaft macht es keinen Unterschied, ob sie das weiße oder grüne Etikett an die Kleidung anbringen.
Oft erwische ich mich dabei, wie ich davon träume auch so viele Klamotten zu haben, wie die großen Fashionbloggerinnen, die ich auf Instagram sehe. Seit letzter Woche sehe ich diese Bilder aus einem ganz anderen Blickwinkel. Ich denke an Frauen in Bangladesh, für die eine 72-Stunden-Woche Normalität ist. Ich sehe kleine Kinder vor mir, die auf den Fabrikböden liegen, weil die Mütter sie mit zur Arbeit nehmen müssen. Ich sehe Baumwollbauern in Indien, die Pestizide auf ihre Felder sprühen – ohne Schutzanzug und ohne Atemmaske. Ich hebe 20 Euro vom Geldautomaten ab und begreife, dass Menschen mit diesem Geld einen Monat lang alles bezahlen müssen, was sie zum Überleben brauchen.
Aber dann kann Instagram eben auch was anderes. Ich bin auf Menschen gestoßen, die all das schon längst wissen und ihr Leben daraufhin geändert haben. Menschen, die sich von der Modeindustrie nicht mehr beeindrucken lassen. Und das heißt nicht gleichzeitig, dass sie unmodisch rumlaufen. Es gibt Wege und Möglichkeiten sowohl nachhaltig, bewusst, als auch trendy zu shoppen.
Viele Labels haben sich dazu entschieden fair zu produzieren. Ja, es ist teurer als die uns bekannten Modeketten – aber man weiß, wohin das Geld geht. Wem das zu teuer ist, der kann auf Second-Hand, Tauschbörsen, DIY und Flohmärkte zurückgreifen – mehr Vintage geht nicht!
Und dann stellt sich noch die Frage: wieviel Kleidung und Schuhe brauche ich überhaupt? Wie oft muss ich wirklich shoppen gehen? Wann ist eigentlich genug?
Genug!
Werbung, Models und viele Fashionbloggerinnen reden uns täglich ein, dass wir noch mehr mehr mehr brauchen – ohne dabei Verantwortung zu übernehmen. Ohne aufzuklären, was dahintersteckt. Ohne sich auch nur ein einziges Mal darüber Gedanken zu machen, was sie mit ihren #ootd anrichten.
Wäre es nicht an der Zeit, aus diesem Irrsinn auszubrechen – oder sollte ich lieber sagen aus diesem Gier-sinn?
Also worauf warten wir? Naja, warten wir überhaupt? Eigentlich tun wir bis heute so, als gäbe es die Rechnung nicht, die wir alle eines Tages gemeinsam zahlen müssen. Denn unserer Party findet momentan auf dem Rücken der nicht geladenen Gäste statt und die finden eines Tages heraus, wer der Gastgeber ist.
Wir!
Haben wir jetzt endlich genug?
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